Am Abend des 7. Mai 2015 fand im Rahmen der Vortragsreihe Abschied von der Revolution? – Neue Forschungsansätze zur modernen Geschichte Chinasder zweite Vortrag Justiz und das Ende der Revolution: Der Umgang mit maoistischen Massenverbrechen in der frühen Reformära von Prof. Daniel Leese statt.
Es ging dabei nicht um eine allgemeine juristische Aufarbeitung der Kulturrevolution, die in China in den Sechziger- und Siebzigerjahren wütete, sondern um die Revision während der Kulturrevolution verhängter Urteile politischer und vor allem strafrechtlicher Natur. Setzt die Wiedergutmachung der Unrechtsfälle das Eingeständnis von Fehlern voraus, ist es umso erstaunlicher, dass bei Urteilsfällung und Wiederaufnahme häufig eine personelle Kontinuität gegeben war. Die Urteile der Kulturrevolution wurden weder beibehalten noch alle aufgehoben, sondern vielfach korrigiert.
Hauptsächlich wurden drei Arten von Vergehen wiederaufgenommen: Konterrevolutionäre Taten, Klassenrache und Politisch Verrückte. Professor Leese brachte hierfür anschauliche Beispiele, unter ihnen auch das folgende:
Ein Wutausbruch aufgrund eines Fahrraddiebstahls seitens des Bestohlenen wurde wegen Zerstörung von Volkseigentum mit mehrjähriger Haft bestraft, da der Mann aufgrund seiner Herkunft als Grundbesitzer einen durchgängig negativen Klassenstandpunkt vertreten hätte. Der Klassenhintergrund, der beim ursprünglichen Urteil erschwerend hinzukam, fällt bei der Wiederaufnahme heraus. Auch wird nun die konkrete Situation herangezogen und hier beispielsweise die Notlage des Beschuldigten durch den Verlust des Fahrrads als Grundlage für den Wutausbruch anerkannt und als mildernder Grund gewertet. Die Rechtsprechung der Revision geht hier argumentativ ohne Verweis auf Gesetzestexte vor.
Die schriftlichen Urteile folgten stets dem gleichen Schema: Personenangaben mit gesellschaftlichem Hintergrund und Status, das Vergehen, das ursprüngliche Urteil und die Revision. Die Urteile gingen als Empfehlungen an die örtlichen Parteifunktionäre und -sekretäre, die schließlich darüber entschieden und meist den Einschätzungen folgten. Als Entschädigung wurden entgangener Lohn während der Haftzeit, Unterstützung für den Alltag oder auch eine Arbeitsstelle für die Kinder des Geschädigten zur Verfügung gestellt. Dieses „Ende der Klassenjustiz" – so Leese – hatte die Einheit und soziale Stabilität des Landes als Ziel und zwar für die Justizopfer nicht nur in ideeller sondern auch materieller Hinsicht.
In der anschließenden regen Diskussion der zahlreichen Zuhörer standen die Fragen zur Materiallage für Professor Leeses Forschung und die Methoden im Vordergrund.
Daniel Leese ist Professor für Geschichte und Politik des Modernen China an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er erhielt 2014 den ERC-Grant für sein Projekt zur Aufarbeitung der Frage der Vergangenheitsbewältigung Chinas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Leeses Forschung dreht sich vor allem um die politische, soziale und kulturelle Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert, chinesische Rechtsgeschichte sowie um die Sprache, die mit politischen Ereignissen wie etwa der Kulturrevolution zusammenhängen („Mao Cult. Rhetoric and Ritual in China's Cultural Revolution", Cambridge University Press, 2011).
Teil der Vorlesungsreihe "Abschied von der Revolution? – Neue Forschungsansätze zur modernen Geschichte Chinas"
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
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