Die 2013 Tour der Li-Familie aus Shanxi durch Deutschland und die Schweiz
Nach ihren Auftritten in Hamburg, Genf, Leipzig und Heidelberg fand das Abschlusskonzert der Li-Familie in Erlangen statt. Rund 120 Zuhörer fanden sich in der offenen und freundlichen Herz-Jesu-Kirche in Erlangen ein, um eine außergewöhnliche und beeindruckende Musik zu hören, die eng mit den Wurzeln des Glaubens im ländlichen Leben in China verbunden und dort auch heute noch allgegenwärtig ist. Musik und Rituale, die hierzulande kaum bekannt und zu hören sind. Der Besuch der Laienpriester aus Shanxi gelang aufgrund der Zusammenarbeit mit den Konfuzius-Instituten Leipzig, Hamburg, Heidelberg und Genf.
Daoistische Rituale zählen zu den bedeutsamsten Errungenschaften der chinesischen Kultur; sie wurden über Generationen hinweg tradiert und sind auch heute noch im ländlichen China allgegenwärtig. Im Gegensatz zum komplexen Mystizismus der daoistischen Philosophie oder der zölibatären Priester der großen Bergtempel haben diese Rituale für die einfache Dorfbevölkerung eine eher lebenspraktische Bedeutung. Im ländlichen China werden daoistische Rituale von Laienpriestern durchgeführt. Diese Priester stammen aus Familien, die auf eine langjährigen Priester- und Ritualtradition zurückblicken und fest mit ihrer lokalen Dorf- und Familiengemeinschaft verwurzelt sind. Man kann sich dies in etwa so vorstellen, als würde die Bach-Familie heute noch Gottesdienste in den Gemeinden zwischen Werra und Saale gestalten.
Auch das Ensemble der Li-Familie besteht aus daoistischen Laienpriestern. Angeführt wird es von Li Manshan (Jahrgang 1946), einem daoistischen Ritualmeister in der neunten Generation. Bei den Mitgliedern handelt es sich um einfache Bauern des Dorfes Liangyuan aus dem Kreis Yanggao, welcher im Norden der Provinz Shanxi westlich von Peking angesiedelt ist. Diese Laienpriester, die in Anlehnung an das dualistische Prinzip des Daoismus vereinfacht “yinyang” genannt werden, leben von der Durchführung der Rituale. Sie zählen zur Lingbao Zhengyi („Numinoser Schatz der orthodoxen Einheit”), einer Gruppierung, die sich in der Ritualgestaltung hauptsächlich auf Schriftmaterial beruft. Die Priester der Li-Familie betätigen sich seit dem 18. Jahrhundert als Ritualspezialisten und führen damit eine Tradition fort, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Sie dienten der örtlichen Dorfgemeinschaft über alle Umbrüche in der modernen Geschichte Chinas hinweg – Invasionen, Bürgerkrieg, politische Kampagnen, chronische Armut – wobei die zentrale Rolle, die sie in der Gesellschaft spielten, von den jeweiligen Lokalregierungen weitgehend geduldet wurde.
Li Qing (1926-1999), Li Manshans Vater, war der am höchsten angesehene Dao-Meister der Region. Er und seine Kollegen führten die daoistische Tradition auch zu Beginn der Mao-Ära aktiv weiter fort, wenngleich auch in eingeschränkter Form, bis sie nach dem Ende der Kulturrevolution wieder aufblühte. Gegenwärtig besteht die Gruppe aus Li Qings Sohn Li Manshan, dem besagten Kopf des Ensembles, Li Qings Enkeln Li Bin und Huang Shuangping, seinen Neffen Zhang Shiyu, seinem Schüler Wu Mei, einem der sicherlich großartigsten Blasinstrumentenspieler der Weltmusik, der bereits als Jugendlicher von Li Qing lernte, sowie Xue Ticheng. Während des Praktizierens der daoistischen Rituale rezitieren die Laienpriester den liturgischen Text. Der Gesang erfolgt im Wechsel mit Instrumentalstücken, für die Blas- und Schlaginstrumente eingesetzt werden.
Fragen Sie die Laienpriester nicht nach dem Sinn des Lebens, bitten Sie sie nicht, Ihnen das Meditieren beizubringen! Das, was die ländliche Bevölkerung von den Daoisten verlangt, sind die Durchführung von häuslichen Ritualen (yingmenshi) sowie verschiedener Rituale, durch die sie mit den Göttern in Kontakt treten bzw. durch die sie den Segen für die Familie und die gesamte Dorfgemeinschaft erlangen können. Zu diesen Ritualen zählen beispielsweise Begräbnisrituale, Tempelfeste und gelegentlich abgehaltene Rituale, die das Ablegen eines Ordensgelübdes begleiten. Desweiteren zählen die Bitte um gesunde Söhne oder um die Herstellung der kosmischen und sozialen Harmonie zu den häufiger angefragten Ritualen.
Jedes Ritual dauert zwei bis vier Tage. Während der Durchführung der Rituale sind neben den daoistischen Laienpriestern auch Schalmei- und Percussionspieler involviert. Alle Beteiligten wechseln sich während des Tages mehrmals ab; auch ziehen sie gemeinsam in Prozessionen umher. Operngruppen treten bei Tempelfesten auf, Bettler kommen manchmal hinzu, um an Beerdigungen am Sarg des Verstorbenen Lieder zu singen. Seit den 1990er Jahren werden oft auch Pop-Bands engagiert – eine Form der Kommerzialisierung, welche die lokale Tradition stärker zu bedrohen scheint, als es die drei Jahrzehnte maoistischer Kampagnen je taten.
Die Daoisten helfen ihren Kunden individuell dabei, glückverheißende Tage für bestimmte Handlungen oder die richtigen Orte und Lebensräume sowohl in dieser, als auch in der nachfolgenden Welt zu wählen, indem sie ihre Almanache konsultieren, den luopan-Kompass zur Hilfe nehmen, Särge bemalen und den Altar dekorieren. Sie treten in Gruppen auf, ausgerüstet mit einem umfassenden Set komplexer ritueller Fähigkeiten, die auf tradierten Anleitungen basieren. Bei Tempelfesten und Beerdigungen, für die sie eine Vielzahl von Texten vorbereiten, um mit den Göttern zu kommunizieren und bei denen die Darstellung magischer Talismane und das Aufzeigen von Gottesbildern notwendig sind, nehmen sie an Prozessionen und Ritualen vor dem Sarg oder dem Bild der Gottheit teil. Sie rezitieren heilige Schriften und Mantras, wobei sie von rituellen Schlaginstrumenten (Trommeln, kleine Becken, Gongs, sowie den größeren Becken nao und bo) begleitet werden.
Noch fesselnder ist jedoch ihr shengguan-Ensemble für sheng (Mundorgel mit durchschlagenden Zungen) und guanzi (Oboe), das zu den auserlesensten aller existierender lokaler Variationen dieses Genres zählt, welches unter den Ritualspezialisten Nordchinas weit verbreitet ist. Den Sternbildern folgend, mal wehmütig, mal komisch (achten Sie auf Wu Meis bezaubernde Kunststücke mit den Blasinstrumenten!), halten die daoistischen Laienpriester ihre lokalen Gemeinschaften durch die heilenden Kräfte ihrer Rituale und ihrer Musik in kosmischer Harmonie.
Das Programm
Auf ihrer Tour präsentierten die Daoisten gekürzte Versionen der sonst sehr umfangreichen und langwierigen Rituale, die sie gewöhnlich während daoistischer Begräbnisfeiern und Tempelfeste für die Götter durchführen.
Prozession und Hymne: „Zahlreich und namenlos sind die bitteren Wurzeln”
Die Daoisten ziehen sich in die sogenannte „Halle der Aufzeichnungen” zurück, wo sie sich ausruhen und die schriftlichen Dokumente vorbereiten, die für die Durchführung der Rituale benötigt werden. Während des Tages besuchen sie den Altar insgesamt sieben Mal, um „die Schriften zu überbringen”. Nachdem sie das Dorf in einer Prozession von der „Halle der Aufzeichnungen” bis zum Altar durchschritten haben, spielen sie eine Abfolge von Hymnen zum Lobpreis der Götter. Dabei stellen sie sich vor den mit Opfergaben reich gefüllten Altar und ersuchen den Segen für die Gemeinde und die Vergebung ihrer Sünden. Das hymnische Klagelied Zhongzhong wuming schließt mit einem Mantra in Sanskrit.
Suite (Instrumentalstück)
Das melodische Repertoire der shengguan Suiten – auch als „heilige Stücke” bekannt – sollte während der Tempelfeste in straffer Folge und im Wechsel mit dem Rezitativ der Schriften vorgetragen werden. Die Suite beginnt mit langsamen und feierlichen Melodien und enden mit einer Serie von kurzen und schnelleren Stücken.
Medley von Stücken aus lokalen Opern, mit Clownerie
Ein Teil des Ritual-Programms der Daoisten ist dazu bestimmt, die Sterblichen zu unterhalten - so z.B. in Abschnitten wie „Das Erlangen der Vergebung” und „Urteil und Almosen”. Eine Reihe populärer Stücke lokaler Errentai Vokalmusik (und sogar Populärmusik) leitet zu Wu Meis verblüffender „Den Tiger fangen”-Clownerie über. Die anderen Ensemblemitglieder treten in dieser Sequenz in den Rollen komischer Handlanger auf.
„Die Einladung” und „Der gelbe Drache verwandelt seine Gestalt drei Mal”
Gegen Einbruch der Dunkelheit führt die Gruppe die Angehörigen in einer Prozession an die Ränder des Dorfes, um die Vorfahren zur Seelenhalle zu rufen und um ein gemeinsames Mahl mit den Verstorbenen einzunehmen. Nacheinander werden einige a capella Vokalstücke, Hymnen und ein bewegendes Solo, der Lobgesang an die Ahnen, vorgetragen. Das abschließende Stück „Der gelbe Drache verwandelt seine Gestalt drei Mal” zeichnet sich durch mitreißende und komplexe Percussion-Abfolgen aus. Es beendet das abendliche Ritual der Opferübergabe, nachdem alle Speiseopfer präsentiert worden sind.
„Das Jagen der fünf Himmelsrichtungen”: Percussion-Stück mit nao und bo Becken
Dieser Teil stellt den Höhepunkt des spektakulären Rituals „Das Banner errichten“ dar. Zunächst wird den Göttern an jedem der insgesamt fünf Himmelsrichtungen – Norden, Süden, Westen, Osten und Mitte – eine Abfolge von Hymnen dargebracht. In dem heutigen Konzert wird das Ensemble den mittelalterlichen Text „Rezitation für den Allerhöchsten“ (Taishang song) singen. Danach führt der oberste Offiziant die Gruppe in einer immer schneller werdenden Jagd um die fünf Himmelsrichtungen an. Mit seinem „kostbaren Schwert“ zeichnet dieser magische Talismane in die Erde aller Himmelsrichtungen. Schließlich wird das Banner aus Tuch unterhalb der Flagge am höchsten Punkt der fünften Himmelsrichtung, der Mitte nämlich, ausgerollt. Die darin enthaltenen Walnüsse, Datteln und Süßigkeiten werden unter den Augen der begeisterten Menge enthüllt. Dieser Akt symbolisiert die Fütterung der hungrigen Geister sowie die Großzügigkeit gegenüber der Gemeinschaft.
Zum Nachlesen und –hören:
Stephen Jones, Ritual and Music of North China: Shawm Bands in Shanxi (Ashgate, 2007, incl. DVD).
Stephen Jones, In Search of the Folk Daoists of North China (Ashgate, 2010).